UNFINISHED ADVENTURES WITH HAPPY END

2016

Rauminstallation, Malerei, Video, Performance

Solo Show bei Galerie Art von Frei

DIE AVANTGARDE IRRT SICH GEWALTIG
Text von Ludwig Seyfarth

Wenn man Jos Diegels Kunst das erste Mal begegnet, mögen die sinnliche Fülle, der verschwenderische Umgang mit der Farbe und die Spontaneität seiner malerischen Gesten darüber hinwegtäuschen, wie intensiv der Künstler über seine Rolle in der Gesellschaft und das Verhältnis von Kunst und Politik nachdenkt. Diegels Malerei springt zunächst am direktesten ins Auge, doch die Spannbreite der von ihm eingesetzten Medien ist groß. Sie reicht über Film, Fotografie, Performance bis hin zu Theaterstücken, die der Künstler selbst schreibt und inszeniert.
Texte tauchen auch fast überall auf den gemalten Bildern auf, direkt mit Farbe groß und bewusst ungelenk draufgeschrieben. Sie mögen wie programmatische Statements wirken, sind jedoch kaum wörtlich zu nehmen. Mit den zitierten oder von ihm selbst ersonnenen Aussagen und Sätzen rekurriert Diegel häufig auf abgegriffene Klischees und Vorstellungen, meist das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft betreffend.

„She has good legs, but she cannot paint“ etwa nimmt sexistische Vorurteile gegenüber Künstlerinnen aufs Korn, die nicht wie männliche Malschweine durch das Schwingen des Pinsels auf die eigene sexuelle Potenz verweisen. Auch Diegels Filmtitel „Größere Leinwände, längere Hälse“ könnte in diesem Sinne verstanden werden, auch wenn er zunächst auf das Verhältnis von Filmleinwand und Körpergröße des Zuschauers anspielt und Margaret Thatchers Ausspruch „größere Käfige, längere Ketten“ paraphrasiert. Dieser Slogan zur Stillstellung von Protestbewegungen ist längst zum T-Shirt-Spruch avanciert. Dass jedwede politische Aussagen „entwendet“ und irgendwo anders, auch entgegen ihrem ursprünglichen Sinn, wieder eingesetzt werden, ist gleichsam der Stand der Dinge, auf dem Diegels Umgang mit Sprache wesentlich basiert. Wie zeitgemäß das ist, hat nicht zuletzt der Wahlsieg Donald Trumps überdeutlich gezeigt: Politische Aussagen und Medienentertainment sind kaum noch voneinander zu unterscheiden.

Während etwa Jonathan Meese seine oft auch in Bilder hineingeschriebene Aussagen durch iterative Wiederholung bewusst entleert, dabei die „Diktatur der Kunst“ ausruft und das offenbar nicht ironisch meint, stellt Diegel das, was er scheinbar verkündet, immer wieder doppelbödig in Frage. So haben viele Bilder schon durch das mehrfache Übermalen und Überschreiben rein physisch mehrere Ebenen. Oder Diegel übermalt andere Bilder, die er etwa auf dem Flohmarkt gefunden hat. Und bei einer umfangreichen Serie kleinerer Formate besteht der Malgrund aus T-Shirts, die der Künstler früher einmal getragen hat.
Das Darunterliegende wird konterkariert oder einfach nur negiert, wie bei Sprayern und Graffiti-Künstlern, zu deren Kreationen zumindest äußerlich oft eine große Nähe besteht. Diegel gehörte selbst nie zu dieser Szene. Seine Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum findet in der Kunst und in der Auseinandersetzung mit der Künstlerrolle statt; er ist kein Aktivist, aber: „Ich mag Kunstwerke, die als Barrikaden dienen können“.
Dieser Satz, groß auf ein Bild geschrieben, erinnert an ein mit künstlerischer Aktivität unmittelbar verbundenes Politikverständnis, wie es beispielsweise die Situationistische Internationale um Guy Debord kennzeichnete. Dada, Surrealismus, Situationismus und Lettrismus sind die vier Bewegungen des 20. Jahrhunderts, denen der Künstler sich am stärksten verbunden fühlt und die er in einer Art Brettspiel gegeneinander antreten lässt: Die wie beim Scrabblespiel einzeln zusammensetzbaren Buchstaben können auch bewusst „falsche“ Worte ergeben, wie im 1945 von Isidore Isou gegründeten Lettrismus, der auf der Herstellung sinnfreier Wortgebilde durch Umstellung der Buchstaben beruhte.

Jos Diegel sieht sich selbst in der bei den Situationisten und Lettristen weiterlebenden surrealistischen Tradition. Gelegentlich greift er jedoch auch weit ältere kunsthistorische Vorbilder auf. Als der Fotograf Volker Muth ihn für eine Porträtserie Frankfurter und Offenbacher Künstler ablichten wollte, schlug Diegel eine Inszenierung frei nach Jan Vermeers „Die Malkunst“ vor. Nur sitzt auf dem Foto das Modell – ein mit Diegel befreundetes ehemaliges Model – , an der Staffelei , während der unbekleidete Künstler die Position des Modells einnimmt. Danach entstanden weitere Bilder, auf denen Diegel fotografische Nacktinszenierungen bekannter Männer wie Yves St. Laurent oder Burt Reynolds frei nachstellt. Als Aktmodell gibt der Künstler jedoch seine Rolle nicht auf, sondern führt den (männlichen) Narzissmus des Künstlertums überdeutlich vor.
Auch hier überlagern sich verschiedene Ebenen, wenngleich nicht physisch oder sinnlich manifest wie bei den Gemälden oder mitunter bei den Filmen. So bemalt oder scratcht Diegel analoges Filmmaterial, oder bei dem in der Ausstellung gezeigten, mit dem fast wörtlichen Debord-Zitat „Boredom is counterrevolutionary“ betitelten Film macht das Rauschen eines Wasserfalls die von den Darstellern gesprochenen Texte unhörbar, so dass man auf die Untertitel angewiesen ist. Aber entsprechen die Texte überhaupt dem, was die Personen sagen? Oder überlagern sich auch hier unterschiedliche Ebenen?
Eindeutige Antworten lässt Jos Diegels Kunst nirgends zu. „Wer eine Botschaft hat, der soll sie mit der Post verschicken“, in dem Film „Kein Heldentum und keine Experimente“, könnte dann aber doch eine Aussage sein, in der sich die Intention des Künstlers ziemlich unverblümt ausdrückt.

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THE AVANT-GARDE IS ENORMOUSLY CONFUSED
Text by Ludwig Seyfarth

The sensual exuberance, the lavish use of paint and the spontaneity of painterly gestures one first encounters in Jos Diegel’s art may well blind one to just how intensively he reflects on his role in society and on the relationship between art and politics. At first, his painting leaps out, although the range of media he uses is quite wide. It spans film, photography, performance and plays that he writes and performs.

Texts appear almost everywhere in his paintings, deliberately clumsy and large, written in paint directly onto the surface. They may seem like programmatic statements but are, nevertheless, hard to take literally. Diegel’s quoted or self-conceived declarations often refer to hackneyed clichés and ideas that relate mainly to the relationship between art and society.
“She has good legs, but she cannot paint”, for example, is a sexist attack on female artists who, unlike their male counterparts, do not display their sexual potency with the sweep of a brush. Diegel’s film title, “Größere Leinwände, längere Hälse” (Bigger Canvases, longer Necks) could be understood in this sense, even if it initially plays on the relationship between the film screen and the height of the viewer, and paraphrases Margaret Thatcher’s dictum, “bigger cages, longer chains.” This slogan for the collapse of protest movements has long since been promoted to a T-shirt motto. That all ‘stolen’ political statements are elsewhere utilised, even in contrast to their original sense, is so to speak the situation on which Diegel’s dealings with language are substantially based. How contemporary this is is all too clearly shown not least by Donald Trump’s election victory: political statements and media entertainment are hardly distinguishable from one another.

Whereas Jonathan Meese, for example, deliberately deflates the statements he often writes in his images through endless repetition and thereby heralds the ‘Dictatorship of Art’, which he apparently does not mean ironically, with Diegel it is never clear who the target of the statement is: “The avant-garde is enormously confused.” Thus what he apparently proclaims is always ambiguously questionable. Many images have several purely physical layers through multiple overpainting and overwriting. Or he paints over pictures that he has found on a flea market. And an extensive series of small-format images is painted on T-shirts that he had previously worn. The underlying text is undermined or simply negated, as is also done by sprayers and graffiti artists, whose creations are often at least outwardly similar to those of Diegel. He, himself, did not belong to this scene. His confrontation with public space and the artist’s role took place within art; he is no activist, but: “Ich mag Kunstwerke, die als Barrikaden dienen können” (I like artworks that can serve as barricades.)
This sentence, written large on a painting, is reminiscent of a political awareness directly bound up with artistic activity that one can also find in, for example, the Situationist Internationale around Guy Debord. Dada, Surrealism, Situationism and Lettrism are the four 20th century movements with which the artist feels most closely connected and which he lines up against each other in a kind of board game. Like the movable letters in Scrabble, they can deliberately create ‘false’ words, as did Lettrism, founded in 1945 by Isidore Isou, which was based on the production of meaningless, constructed words through swapping letters.
Jos Diegel sees himself in the Surrealist tradition that lived on in Situationism and Lettrism. Now and then, he also adopts examples from art history that are much older.
As the photographer, Volker Müth, was setting him up for the portrait series he was making of Frankfurt and Offenbach artists, Diegel suggested staging the portrait after Jan Vermeer’s “The Art of Painting.” Now, the model - a former model and friend of Diegel - sat at the easel while the naked artist took the model’s place. Afterwards, Diegel produced more images into which he set photographically staged, naked versions of famous men such as Yves St. Laurent and Burt Reynolds. The artist, however, is not giving up his role as a nude model, but all too clearly displaying the (male) narcissism of the artistic world.

Here, too, different layers are superimposed, albeit not physically or sensually manifested as in the paintings or occasionally in the films. Here, Diegel paints on or scratches analogue film material, or as in the exhibition’s film titled almost word for word with a Debord quote, “Boredom is counter-revolutionary”, the sound of a waterfall drowns out the text spoken by an actor, so the viewer has to read the subtitles. But do the texts reflect what the people say? Or are different layers also superimposed here?
Jos Diegel’s art never allows answers. “Whoever’s got a message should send it by post” from the film “Kein Heldentum und keine Experimente”, could, however, be a statement in which the artist’s intention is quite bluntly expressed.